Derzeit findet der Prozess gegen den Attentäter statt, der im Oktober letzten Jahres versuchte in eine Synagoge in Halle einzudringen und Jüdinnen:Juden zu erschießen. Als er es nicht schaffte, erschoss er auf seiner Flucht zwei Menschen, eine Person auf offener Straße, eine in einem Döner-Imbiss. Er hatte ein klares antisemitisches, rassistisches und antifeministisches Weltbild.
Für viele war das Attentat ein riesiger Schock. Für jüdische Personen war es keiner. Schon lange warnen wir vor den Gefahren von Antisemitismus, dass rechtsextremistische Ideen sich wie Lauffeuer im Netz verbreiten lassen und dass es sich bei Antisemitismus nicht um ein Relikt aus der Vergangenheit handelt.
Ein Schock war es vorwiegend für diejenigen, die sich nicht mit den Auswirkungen der Ideologie der weißen Vorherrschaft auseinandersetzen und damit wie diese einen großen Bestandteil der deutschen Gesellschaft darstellt, wie diese Menschen rassifiziert und sie “andert”. Denn Deutschland ist keine homogene Gruppe und hat keine homogene Kultur. Nur durch die Stereotypisierung des ‘Anderen’ wirkt die eigene konstruierte Gemeinschaft wie eine homogene Gruppe in die vermeintlich andere nicht hineinpassen. Der Prozess der Anderung schafft somit die Identität einer eigenen Gruppe, die der “Deutschen”, durch die stereotypische Abgrenzung zur ‘anderen’ Gruppe, z.B. die der “Juden”.
Zu der Ideologie der weißen Vorherrschaft gehören Rassismus und Antisemitismus. Während bei rassistischen Praxen, zumeist die davon Betroffenen als minderwertiger konstruiert und hierarchisch untergeordnet werden, werden bei antisemitischen Praxen die davon Betroffenen als zugleich minderwertig und übermächtig konstruiert. Bei antisemitischen Praxen werden somit jüdische Personen und Institutionen nicht in ihrer Verschiedenheit wahrgenommen. Ob Schwarze Jüdinnen:Juden of Color oder weiße Jüdinnen:Juden, Mizrachim, Sephardim oder Aschkenasim, ob religiös oder atheistisch, ob Israeli oder Deutsch, sie werden alle zu einer Gruppe konstruiert, nämlich die der „Juden“. Die eigene Identität wird dadurch gestärkt, dass sie sich selbst von den „Anderen“ auf Grundlage positiv bewerteter Attribute abgrenzen kann und ungewollte Eigenschaften den „Anderen“ zugeschrieben werden. (vgl. Schäuble 2016, S. 1) Der_die Antisemit:in muss daher nicht sich selbst und gesellschaftliche Zusammenhänge reflektieren, sondern projiziert negative Eigenschaften und Entwicklung auf „die Juden“. Sie bestimmen was „der Jude“ ist und was nicht.
Dadurch werden „die Juden“ zugleich als fremd und übermächtig zu dem Selbst konstruiert, weshalb sie oftmals abstrahierende und komplexe Systeme verkörpern, für die sie schlussendlich beschuldigt werden können. Sie werden zur Grenzfigur der sozialen Ordnung und damit zu den Repräsentanten des Bösen gemacht. So steht die Konstruktion „der Juden“ abseits der Nation, sei schuld am Kapitalismus und am Sozialismus, macht aus dem „guten“ Kapitalismus das „böse Geldsystem“, und/oder sei die Elite, die geheime Komplotte schmiede und hinter Allem stecke. Diese Zuteilung ermöglicht es, sich selbst als Opfer fremder Mächte zu positionieren und sich an einem Sündenbock abreagieren zu können. Außerdem wird deutlich, dass die antisemitische Vorstellung die soziale Ordnung der Gesellschaft erhalten bzw. wiederherstellen will, ob das nun die Nation oder die „weiße Vorherrschaft“ ist. Um die soziale Ordnung wiederherzustellen, müssen in dieser Ideologie daher „die Juden“ identifiziert, entfernt und vernichtet werden. Ein bekanntes Bild, dass im Nationalsozialismus belebt und in der Shoah realisiert wurde. Da antisemitische „Judenbilder“ historisch gewachsen, tief kulturell verankert und weit verbreitet sind, begründen sie vielfältige Ideologien, aus denen sich ganze Weltanschauungen ergeben. (vgl. Schäuble 2016, S. 3)
Der an Verschwörungsmythen gekoppelte Antisemitismus, welcher stets eine verschwörungsgeleitete Welterklärung ergibt, gilt als der Unterschied vom christlichem Antijudaismus zum modernen Antisemitismus. Wenn also Mythen über Personen, die sich gegen die Welt verschworen haben, auftauchen, fallen sie oft auf die bewährte Konstruktion „der Juden“ zurück. Komplexe Sachverhalte und Zusammenhänge werden dadurch vereinfacht und alles Böse der Welt „den Juden“ zugeschrieben. Deshalb bedingen Verschwörungsmythen Antisemitismus strukturell.
Um Antisemitismus zu bekämpfen reicht es deshalb nicht aus, Polizeibeamte vor sämtliche Synagogen oder jüdische Schulen Deutschlands zu platzieren. Zumal viele jüdische Personen nicht einmal in einer jüdischen Gemeinde eingetragen sind. Antisemitismus findet auf Schulhöfen, in Unis, auf der Strasse, in der U-Bahn, bei den Eltern am Esstisch statt. Da er strukturell bedingt ist, muss er strukturell angegangen werden.
Dabei ist es die Aufgabe von nichtjüdischen Personen sich zu solidarisieren und gegen Antisemitismus einzustehen. Das bedeutet auch, jüdischen Personen bei der Ausarbeitung und Auslegung der Thematik ihrer eigenen Ausgrenzung den Vortritt zu lassen. Das bedeutet auch Geld in die Hand zu nehmen und jüdische Aktivist*innen, anti-antisemitische Arbeit von jüdischen Personen und jüdische Projekte zu unterstützen. Eine rein weiß-christliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus läuft auf die Gefahr hin, zu stereotypisieren und jüdische Menschen wieder einmal nicht in ihrer Verschiedenheit wahrzunehmen. Außerdem kann es nicht sein, dass diejenigen, die von einem antisemitischen System profitieren, auch davon profitieren, über Antisemitismus aufzuklären.
Viele in Deutschland denken jüdische Menschen seien wie ein Mythos, als gäbe es uns gar nicht. Als seien wir nicht schon seit Jahrtausenden Teil von vielen Kulturen, als gäbe es keine jüdische:n Dichter:innen oder Philosoph:innen, als würden nicht über 100.000 jüdische Menschen in Deutschland leben.
Jüdinnen:Juden sind keine markierten Opfer, die zur Prime-time einmal im Jahr ausgefragt werden können wie schlimm es doch sei als eine jüdische Person in Deutschland zu leben. Wir sind Kämpfer:innen. Wir brauchen keine Hilfe, sondern eure Unterstützung. Wir brauchen eure Solidarität mit uns.
Investiert in jüdische Projekte, Personen und Kämpfe. Setzt nicht euch in den Fokus von unserem Kampf.
Text von Riv Elinson.